Sie könnten einem fast Leid tun, die armen Pharma-Forscher. Da forschen sie jahrelang herum, basteln ein nach allen Regeln der Chemie höchst wirksames Gebräu zusammen – und dann scheitert die Wunderpille kurz vor der Zielgrade an einer Milchzuckertablette. Zum Heulen. Denn wenn ein Medikament neu am Markt zugelassen werden soll, muss es zunächst verschiedene Tests durchlaufen. Einer der zentralen Tests besteht in einem Vergleich zwischen zwei Gruppen, von denen eine das neue Medikament bekommt, die andere eine völlig wirkungslose Substanz (meist eine Art Milch- oder Traubenzucker mit ein paar Geschmacksstoffen) – sogenannte Placebos. Das Medikament muss in diesem Versuch natürlich signifikant besser wirken als die Placebos, sonst wird’s nichts mit der Zulassung.

Sollte ja nicht weiter schwierig sein, könnte man denken, aber Irrtum: Immer häufiger heilen die Placebos genauso gut wie das Medikament – und manchmal sogar besser. Der Umstand, dass die Einnahme eines Schein-Medikaments wirkungsvoll die Gesundheit verbessern kann – der sogenannte Placebo-Effekt – galt lange als Beleidigung für die seriöse Pharma-Forschung. Nur ist er dummerweise nicht mehr zu ignorieren: Mittlerweile scheitern fast 50% aller neuen Medikamente an der Tatsache, dass es ihnen nicht gelingt, in Sachen Wirksamkeit eine schnöde Süßigkeit zu übertrumpfen. Zum Verzweifeln.

 

Wie kann das sein?

„Es ist nicht so, dass die alten Medikamente weniger wirkungsvoll wären, sagen die Medikamenten-Entwickler. Es ist, als würde der Placebo-Effekt immer stärker. Der Fakt, dass eine wachsende Anzahl von Medikamenten nicht mehr in der Lage ist, Zuckerpillen zu übertreffen, hat die Industrie in eine Krise geworfen. […] Warum übertreffen inaktive Pillen plötzlich gleichermaßen vielversprechende neue Medikamente und etablierte Medizin?“ fragt Steve Silberman in einem aktuellen Artikel auf Wired.com.

Das beginnt man gerade erst zu verstehen. Und so hat sich ein zunächst kaum ernstgenommener Effekt inzwischen zu einem eigenen Forschungszweig, einer richtigen „Placebo-Forschung“ entwickelt, die zu allerlei seltsamen Erkenntnissen kommt.

Der Durchbruch für den Placebo kam 1955. Mit einem Artikel von Henry Beecher, der nachweisen konnte, dass die Wirkung von Medikamenten oft fälschlicherweise dem Medikament zugeschrieben wird, da bei Kontrollgruppen die gleichen Effekte auftreten. Er wies auch darauf hin, dass auch die Patienten, die das wirkliche Medikament nehmen, dem Placebo-Effekt unterliegen: Es ist der Akt des Medizin-Einnehmens selbst, der auf sonderbare Weise heilsam wirkt. Dadurch könne kaum mehr auseinandergehalten werden, welche Wirkung dem Medikament zuzuschreiben ist und welche der wundersamen Fähigkeit des Körpers, sich selbst zu heilen. Nur durch eingehende Erforschung des Placebo-Effekts, so Beecher, wäre eine wirkliche Wirksamkeits-Kontrolle möglich.

Heute weiß man mehr. Mehr als man eigentlich wissen wollte. Nämlich, dass irgendwie fast alles die Wirksamkeit eines Placebos beeinflusst: Ob der Arzt, der den Placebo verabreicht einen weißen Kittel trägt, ob er sich als Chefarzt ausgibt, oder als Krankenpfleger, ob das „Medikament“ angeblich ganz furchtbar teuer ist oder nicht – all das spielt eine Rolle, wie gut ein Placebo wirkt. Und noch mehr. Pillen mit einem eingedruckten Fantasie-Logo wirken besser als Pillen ohne, gelbe Placebos helfen am besten gegen Depressionen, rote gegen Müdigkeit und je mehr und je öfter sie eingenommen werden müssen, desto besser. Außerdem spielt es eine große Rolle, in welchem Land die Tests durchgeführt werden – es ist halt eine Glaubens-Frage.

Diese ganzen Umstände lassen die Testverfahren mittlerweile aussehen, als wäre sie von einem Haufen Paranoider entwickelt worden, die deutlich zu viele Agenten-Filme gesehen haben: Weder der Patient, noch die Ärzte, die die Pillen verteilen, noch die Personen, welche hinterher die Ergebnisse auswerten, dürfen wissen, welches nun das Medikament und welches der Placebo ist. Weil das alles die Wirksamkeit beeinflusst. Zum Haare-Raufen.

 

Nicht bloß eingebildet

Und dabei ist die Wirkung der Placebos keineswegs nur eingebildet, sondern „der Glaube an eine Heilung führt zu realen, physischen Veränderungen. Als Antwort auf Placebos, von denen der Patient glaubt, sie würden den Schmerz beseitigen, öffnet das Gehirn Rezeptoren für Opiate. Als Antwort auf eine nur scheinbare Parkinson-Operation hebt es die Dopaminausschüttung an, und es wirft sogar die Tumorentwicklung zurück, wenn der Patient an ein Mittel glaubt, das ansonsten ineffektiv ist“, wie Wolf Schneider die Erkenntnisse in seinem Artikel „Was heißt hier ‚Scheinmedikament‘?“  zusammenfasst.

 

Nicht nur die Schulmedizin

Aber es ist keineswegs nur die Schulmedizin, die mit den Placebos kämpft – auch die Naturheilverfahren kommen nicht besser weg. Homöopathie ist ebenso gründlich an den Placebo-Tests gescheitert, wie viele andere Heilmethoden. Auch bei der Akupunktur konnte bisher keine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung festgestellt werden. Ist aber auch kompliziert zu erforschen, weil man erstmal Täuschungsnadeln entwickeln musste, welche nicht wirklich „zustechen“, den Patienten aber trotzdem im Glauben lassen, gestochen worden zu sein. Üblicherweise wird dann in drei Gruppen getestet: Einige werden wirklich akupunktiert, andere werden akupunktiert aber abseits der Akupunkturpunkte, die dritte Gruppe wird mit den Täschungsnadeln akupunktiert. Ob das nun wirklich was aussagt, sei dahingestellt – jedenfalls hilft alles gleich gut.

Aufgrund des religiösen Eifers, mit dem viele Menschen an bestimmte Naturheilverfahren glauben, ist bei ihnen die Placebo-Wirkung sowieso noch weniger mit der tatsächlichen Wirkung auseinanderzuhalten, als das ohnehin schon der Fall ist. Je mehr man dran glaubt, desto besser wirkt’s halt. Nichts zu machen.

 

Die Chemie

Aber dass Medikamente oder Kräuter eine chemische Wirkung haben, will ja trotz aller Placebo-Forschung niemand bestreiten. Wer da nicht dran glaubt, kann sich durch den Genuss von einem  halben Liter Doppelkorn von der Macht der Chemie überzeugen.

„Optimal ist die Wirkung, wenn der Patient an ein ihm verabreichtes Mittel glaubt, das sogar ohne seinen Glauben wirken würde.“ bringt Wolf Schneider den Zusammenhang treffend auf den Punkt. Trotzdem wird es immer undurchsichtiger, wie genau das Verhältnis der Wirksamkeiten ist – und warum es sich immer mehr zugunsten der Placebos verschiebt.

Bei neuen Test-Verfahren wissen die Patienten jetzt nicht mal mehr, ob sie überhaupt noch irgendwas bekommen – so kann der Placebo-Effekt, der beim bewussten Einnehmen von was-auch-immer automatisch entsteht, wenigstens ein bisschen abgemildert werden.

 

Zu viel Werbung

Eines weiß man: Es ist paradoxerweise mit ziemlicher Sicherheit vor allem der Glaube an die Wirksamkeit der Schulmedizin, der sie im Verhältnis zu Placebos so unwirksam macht. Wirklich zu dumm. Aber da uns per Fernsehen rund um die Uhr eingehämmert wird, dass es uns gutgeht, wenn wir nur Pillen schlucken, Pillen schlucken, Pillen schlucken, geht es uns dann halt auch gut, wenn wir Pillen schlucken. Egal was da drin ist – einfach weil wir dran glauben. Deshalb ist Amerika auch der dümmste Ort für eine Placebo-Studie: Die glauben nämlich besonders fest an Tabletten und da wirkt jetzt fast alles ganz hervorragend.

Und wenn Akupunktur jetzt weitestgehend anerkannt ist, wirken halt auch die Placebo-Nadeln besser, weshalb man dann die eigentliche Wirksamkeit der Original-Nadeln wiederum schlechter nachweisen kann. Es ist verzwickt.

 

Placebos: Die Kraft des Geistes

Traurig auch: Keiner mag den armen Placebo-Effekt. Egal wem man davon erzählt, ob nun den Schulmedizinern, Reiki-Jüngern, Schamanen oder den Anhängern der traditionellen chinesischen Medizin – alle weisen ihn empört zurück: Die Wirksamkeit sei nachgewiesen. Dabei heißt es ja keinesfalls, dass irgendeine Heilkunst „unwirksam“ wäre, nur weil sie den Placebo-Effekt nutzt – ganz im Gegenteil, der Placebo-Effekt sagt ja eben gerade aus, dass sie wirkt. Aber vielleicht aus ganz anderen Gründen, als wir denken. Vielleicht ist der Geist, die Fähigkeit des Körper-Systems zur Selbstheilung um ein Vielfaches größer als angenommen. Und vielleicht haben die alternativen Heilmethoden ja auch recht damit, den Grund dafür in eher feinstofflicheren Bereichen zu suchen – wer weiß?

Vielleicht eröffnet die Placebo-Forschung uns den Weg zu einer ganz neuen Medizin. Denn wenn der Körper Schmerzmittel und Dopamine als Reaktion auf einen Placebo ausschütten kann, warum sollten wir dann nicht auch lernen können, dies willentlich zu steuern? Wenn Tumore zurückgehen, obwohl der Patient nur Wasser bekommt und dann wieder anfangen zu wachsen, sobald die Ärzte dem Patienten erklären, dass das „Wundermittel“ sich leider als unwirksam herausgestellt hat, ja dann sollten wir aber mal hurtig versuchen herauszufinden, wie das funktioniert! Mindestens aber sollte endlich eine eingehende Erforschung der Selbstheilungskräfte erfolgen – und jetzt, 54 Jahre nach der allgemeinen Anerkennung des Placebo-Effekts, scheint es endlich soweit zu sein.

 

 

Bilder

Pillenglas: Bastet78 / Wikimedia
Pillen: RayNata / Wikimedia
Akupunktur: Kyle Hunter / Wikimedia
Chemische Formel: Mike Serfas / Wikimedia
Mönch: Tevaprapas Makklay / Wikipedia

 

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*