Die Evolution des Mitgefühls

Der pessimistische Blick auf die Welt lässt wenig Raum für Hoffnung. Der Mensch, so scheint es und so haben wir es gelernt, ist ein selbstsüchtiges, hinterhältiges und über alle Maßen aggressives Lebewesen. In diesem Blickwinkel mutet es als reines Glück an, dass der Homo sapiens bisher weder den Planeten in Schutt und Asche gelegt hat, noch durch fortdauernden Krieg und rücksichtsloses Morden den Untergang seiner eigenen Spezies herbeigeführt hat. Allerdings könnte beides auch noch eintreffen – hunderttausende von Tierarten hat er schließlich schon vernichtet und der Planet ist immerhin schwer krank.

Glauben wir verschiedenen Vertretern der Evolutionstheorie, dann ist das nicht verwunderlich – die Natur ist eben so: ein blutiger Kampf von allen gegen alle, in dem nur der stärkste überlebt. Jeder ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, es gilt das Gesetz der Konkurrenz, das „Überleben des Bestangepassten“, wie Darwin es nannte. Wie von einem unterbewussten Wahn getrieben, stehen wir alle in einer rücksichtslosen Fortpflanzungs-Konkurrenz.

Auf dieser Maxime beruht eigentlich unsere ganze Gesellschaft: Konkurrenz ist der Leitfaden unseres Zusammenlebens. Schon in der Schule lernen wir, uns zu messen und zu vergleichen, spätestens im Arbeitsleben sind wir dann mittendrin im Selektionsprozess. Unsere Wirtschaft, unsere Politik: Alles Konkurrenzsysteme, in denen man dem anderen nicht trauen kann, die „Konkurrenz“ gehört besiegt. Gelächelt wird nur zum Schein. Und wir alle glauben: So ist das eben.

Aber so ist es eben nicht.

Die Evolution der Kooperation

Der Affe ist das kooperativste und sozialste Wesen, das wir kennen und dies ist kein Fehler der Natur. Der Fortpflanzungskampf der einzelnen Individuen ist nämlich nur der halbe Teil der Geschichte. Der andere ist, dass viele Spezies allein dadurch Erfolg haben, dass sie so kooperativ sind. Wo das Überleben des Einzelnen nur durch das Überleben der Gruppe gewährleistet ist, bilden sich automatisch soziale Fähigkeiten. Denn je einfühlsamer die Teilnehmer eine Gruppe miteinander umgehen, desto tiefgreifender ihre Kooperation. Damit ist die Fähigkeit des Mitgefühls keineswegs ein Unfall der Evolution, sondern ein entscheidender Evolutionsvorteil. Tatsächlich hat die Idee eines rücksichtslosen Kampfs ums Überleben nur wenig mit der Realität zu tun. In Wirklichkeit gedeihen Spezies, die in Gruppen leben sogar hauptsächlich aufgrund ihrer Fähigkeit zu kooperieren, abzuwägen und mitzufühlen.

Es mag sein, dass Gene egoistisch sind, aber es hat sich im Falle der Primaten herausgestellt, dass es am egoistischsten ist, zu einem gewissen Grad selbstlos zu sein. Im Tierreich ist es so, dass ein völlig selbstloses Individuum in einer Gruppe wenig Chancen hat, aber eine Gruppe von Egoisten gar keine. Eine Erkenntnis, die sich auch die Menschheit zu Herzen nehmen sollte: Eine Gruppe aus selbstsüchtigen Individuen hat keine Überlebenschance. Wilson und Wilson haben dies in „The Quarterly Review of Biology“ folgendermaßen zusammengefasst: „Selbstsucht schlägt Selbstlosigkeit innerhalb von Gruppen. Selbstlose Gruppen schlagen selbstsüchtige Gruppen. Alles andere ist Kommentar.“

Empathie ist unsere Natur

Die Fähigkeit zur Empathie ist älter als unsere Spezies, sie ist ein Urtrieb, der ebenso sehr zu unserer Natur gehört, wie der Drang zu überleben. In seinem Buch „The Age of Empathy: Nature’s Lessons for a Kinder Society“ trägt der Primatologe Frans de Waal unzählige Anekdoten und Studien zusammen, die beweisen, dass selbstloses Verhalten bei Primaten keine Ausnahme, sondern die Regel ist. Es gehört zu uns, wie unsere Instinkte.

„Wir sind programmiert zu helfen. Empathie ist eine automatische Reaktion, über die wir nur wenig Kontrolle haben. Wir können sie unterdrücken, mental abblocken oder darin versagen nach ihr zu handeln, aber ausgenommen eines winzigen Prozentsatzes an Menschen – bekannt als Psychopathen – ist keiner immun gegen die Situation eines anderen“, so de Waal.

Die Neurobiologie hat ebenfalls gezeigt, dass prosoziale Menschen tatsächlich von Natur aus gut sind: Sie werden von einem automatischen Moralgefühl angetrieben und kooperieren instinktiv. Auch hier ging unsere konkurrenz-basierte Wissenschaft bisher davon aus, dass prosoziale Menschen ihre selbstsüchtigen Tendenzen mit Hilfe ihres präfrontalen Kortex aktiv unterdrücken. Auch die Genetik hat mittlerweile nachgewiesen, dass Empathie und Mitgefühl in unseren Genen verankert sind.

Damit ist die bisher geltende Auffassung widerlegt, wonach Menschen ausschließlich auf ihren eigenen Nutzen aus sind. Mitgefühl ist das Endprodukt der Evolution selbstloser Gruppen, an deren Spitze der Mensch steht. Wir sollten verstehen: Der Mensch ist nur deshalb so sensationell erfolgreich, weil er gelernt hat, zu kooperieren und er wird nur solange erfolgreich sein, wie er fortfährt zu kooperieren. Und Empathie ist unsere Natur.

Zeitalter der Kooperation

Dass Konkurrenz eine Realität ist, kann natürlich nicht von der Hand gewiesen werden, sie existiert in der Natur aber nur im Rahmen einer übergeordneten Kooperation. Man könnte der Ansicht sein, dass der Mensch noch immer dabei ist, sein kooperatives Potenzial zu entfalten. Evolutionär gesehen sind wir als Spezies langfristig nur dann wirklich überlebensfähig, wenn wir unsere Fähigkeit zu kooperieren auf den gesamten Planeten ausgedehnt haben. Ein Affe weiß nichts über ökologische Zusammenhänge und er braucht es auch nicht wirklich. Der Mensch mit seiner zerstörerischen Macht hingegen ist sowohl in der Pflicht als auch in der Lage, sich als Teil eines Gesamtsystems zu begreifen, mit dem er notwendig kooperieren muss. Denn mit dem Ökosystem in Konkurrenz zu treten, wie wir es derzeit tun, muss notwendig den Untergang unserer Spezies bedeuten. Evolutionär stehen wir damit zwangsläufig vor dem nächsten Schritt unserer Kooperationsfähigkeit.

Auch die Geschichte des Menschen könnte man als eine Entwicklung immer größerer Kooperation lesen. Bekriegten sich am Anfang noch einzelne Stämme und Familien, waren es später Fürstentümer, Königreiche und schließlich Nationen. Immer größer wurden die Kooperationen und Bezugsgruppen. Heute sind es nunmehr ganze Kontinente und Kulturkreise, die miteinander im Kampf liegen. Gleichzeitig war eine geeinte Welt noch nie so nah wie heute.

Sieht man es so, scheint das Muster klar. Ganz so klar ist es aber leider nicht, da es immer noch überlagert wird, von einer Konkurrenz-Ideologie, die uns seit Jahrhunderten begleitet. Noch immer mit einem Bein in der Wildnis hat der Mensch bisher seine Tendenz zu konkurrieren überbetont und die Fähigkeit des Mitfühlens und Kooperierens zum Teil willentlich verdrängt. Nicht umsonst galt Mitgefühl für Männer lange Zeit als Zeichen von Schwäche. Auch wissenschaftlich ist die Erkenntnis einer Evolution der Empathie noch eine relativ neue, die mehr als ein Jahrhundert lang von den Wissenschaftlern geleugnet und ignoriert wurde, obwohl zum Beispiel Peter Kropotkin schon früh darauf hinwies.

Für den Menschen gibt es keinen Grund mehr zu konkurrieren. Die Wildnis, mit der wir kämpfen, erzeugen wir uns längst nur noch selbst – wir brauchen nur damit aufzuhören. Die Rückbesinnung auf unsere Fähigkeit zur Kooperation, das Zulassen von Mitgefühl in seiner ganzen Dimension und die Erkenntnis der Einheit auf einer spirituellen Ebene sind die logischen nächsten evolutionären Schritte für die Menschheit.

6 Responses

  1. Stefan Wehmeier
    Die Kunst, ein Egoist zu sein

    „Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen, wie im Tiere, ist der Egoismus, d. h. der Drang zum Dasein und Wohlsein.“

    Arthur Schopenhauer (1788 – 1860)

    „Die Selbstsucht besteht nicht darin, dass man lebt, wie man will, sondern dass man von anderen verlangt, sie sollen leben, wie man will.“

    Oscar Wilde (1854 – 1900)

    Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, indem er eben nicht in der Natur, sondern in einer arbeitsteiligen Kultur lebt, die er sich zusammen mit vielen anderen Menschen künstlich aufbaut. Bisher hat der Kulturmensch die Erfahrung gemacht, dass sein „Drang zum Dasein und Wohlsein“ immer wieder mit demselben Drang der anderen kollidiert. Doch anstatt die bisherige Form der Arbeitsteilung in Frage zu stellen, stellt der Mitleidsethiker den Egoismus in Frage, was dazu führt, „dass man von anderen verlangt, sie sollen leben, wie man will“. Damit entlarvt Oscar Wilde die Mitleidsethik des Arthur Schopenhauer als das, was sie ist.

    „Egoismus ist kein Prinzip, sondern die eine Tatsache.“

    Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)

    Auch das, was sich „Christentum“ nennt, nährt sich von Mitleid, leugnet nicht nur die eine Tatsache und ist die wohl schlimmste und folgenschwerste Ausprägung von institutionalisierter Selbstsucht in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Darum nannte es Friedrich Nietzsche „die Eine große innerlichste Verdorbenheit“ (Der Antichrist, 1888). Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nicht Mitleid ist verderblich und Moral generell überflüssig, sondern es ist Verdorbenheit, Empathie als Begründung für Selbstsucht zu missbrauchen, und jede Moral wird zur Unmoral, solange die gesamte Arbeitsteilung einer systemischen Ungerechtigkeit unterworfen ist. Das „Christentum“ geht in seiner Verdorbenheit allerdings noch einen Schritt weiter, indem es die Notstände verfestigt, die Mitleid hervorrufen, um sich selbst als „den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit“ zu erhalten.

    Es ist klar, dass dies mit der ursprünglichen Lehre des Jesus von Nazareth (bzw. mit dem wahren Urchristentum) nichts zu tun haben kann, denn als „Obermitleidsethiker“ wäre Jesus mit Sicherheit nicht die berühmteste Persönlichkeit der Welt geworden, auf der bis heute die planetare Zeitrechnung basiert. Zur besseren Unterscheidung wollen wir daher stellvertretend für alles, was sich heute „christlich“ nennt, den Ausdruck Katholizismus verwenden, wobei eine Abgrenzung zum so genannten Protestantismus ist diesem Zusammenhang irrelevant ist. Genauer: Cargo-Kult des Katholizismus, denn es ist ebenso klar, dass es sich um einen Cargo-Kult handelt, der auf einer krassen Fehlinterpretation (sofern der irrationale Blödsinn überhaupt als „Interpretation“ aufzufassen ist) der ursprünglichen Lehre beruht, und als dessen „Cargo“ die vier biblischen Evangelien anzusehen sind. Und nicht einmal das Cargo des Kultes ist noch im Originalzustand:

    http://opium-des-volkes.blogspot.com/2017/04/die-kunst-ein-egoist-zu-sein.html

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  2. Alfred Reimann

    Das Kooperation(Freitausch individueller Leistung) die einzige Möglichkeit ist, daß eigene Wohlbefinden durch Leistungstausch zu erhöhen, wird auch in der Genuss-Wirtschafts-Lehre einfach und kurz begründet.

    Entscheidend ist dabei der Genusserwartungsgewinn auf der Gefühlsebene, der unser Wolhlbefinden sofort erhöht.

    Da die meisten Handlungen unbewusst gewählt und ausgeführt werden und die dadurch verursachten guten Gefühle häufig nicht stark genug sind, um ins Bewusstsein aufzusteigen, ist der Zusammenhang nicht sofort zugänglich. Auf www.ich.io wird dies einfach und kurz in der „Einführung in die Genuss-Wirtschafts-Lehre“ erklärt.

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  3. Anonymous

    Menschen sind nicht von Natur aus selbstsüchtig. Nur weil viele Menschen sich egoistisch verhalten, darf hieraus nicht abgeleitet werden, dass dieser Egoismus in unserer Natur liegt. Eine Natur, d.h. ein Wesen ist nicht egoistisch. Es ist den Umständen entsprechend möglichst optimal und pflanzt das aus Liebe entstandene Leben weiter. Es versucht zu überleben und die Erfahrung der Liebe zu erweitern. Jedes Wesen kennt andere Wege, um dies zu verwirklichen.

    Liebe ist immer etwas gemeinsames. Ein Mensch, der mit sich selbst nicht liebevoll umgeht, denkt weder an sich selbst noch an andere. Er ist lediglich ein Opfer der Unzugänglichkeit, die er selbst geschaffen hat. Ein Mensch, der an sich selbst mit der Absicht der Liebe denkt, denkt automatisch auch an andere. Er kann sich selbst nicht lieben, wenn er nicht auch die andere liebt. Deshalb sind nur Opfer Egoisten und zugleich die Selbstlosen. Alle die in Wahrheit aber an sich selbst denken, denken damit auch an andere. Jedes Wesen und damit auch der Mensch lässt sich mit der Liebe gleichsetzen. Deshalb ist jeder von uns auf der Suche nach anderen Menschen, in denen er dieselbe Liebe erkennen kann.

    Wie sieht das Denken an andere aus? Es bedeutet nicht, einem armen Menschen Geld oder etwas zu Essen zu geben, sondern der Liebe zu folgen. Konkurrenzdenken ist nur da, wenn ich Angst habe, wertlos zu sein. Wenn ich mich mit der Liebe aber vereine, muss ich mich schließlich nicht mehr wertlos fühlen, sondern kann bedingungslos genau das tun, was meinem Wesen entspricht. In diesem Zustand hätte sich das sogenannte Egobewusstsein aufgelöst. Deshalb kann ich dann auch nicht mehr selbstsüchtig oder egoistisch sein.

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  4. hans

    Sperrt ein kleines kind in einen hühnerstall und es wird sich verhalten wie ein huhn. Sperrt ein kind in einen schafsstall und es wird sich verhalten wie ein schaf. Ein kleines kind das von wilden wölfen aufgezogen wurde, wird ein wolfsverhalten annehmen. Ein kleines kind das in der heutigen zeit unter menschen aufwächst wird sich wie ein heutiger mensch verhalten. Mit scheuklappen, zukunftsängsten usw. Wir sind weder selbstsüchtig noch haben wir einen mutter theresa komplex. Die verhaltensforscher sind erbsenzähler und keine naturbeobachter. Das heutige öffentliche zwangserziehungssystem ist zum allergrössten teil schuld an unserer misere. Ob das absichtlich ist kann man nicht klar beweisen. Erwachte menschen sollten ihre kinder nebenher aufklären wie die menschen in jeder beziehung entehrt werden.

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  5. Mike

    Sie wollen niemanden, der „gut“ ist. Denn wer „schlecht“ ist, kann nicht besser sein als sie. In einer durchweg monetarisierten Welt hat Selbstlosigkeit keinen Platz. Es sei denn, man schreibt z. B. ein Buch darüber. 😉 Nur dann sehen wir darin einen Sinn oder einen Nutzen. Alles andere ist Quatsch, weil es nicht der allgemeingültigen Ideologie – Alle gegen alle im Kampf ums Dasein – entspricht. So wurden wir erzogen. So schreiten wir voran.

    Ich bezeichne das als Weg zum Selbstbetrug, der früher oder später in eine Sackgasse führt. Allerdings wird dieser Weg nicht einmal, sondern ständig aufs Neue beschritten, bis rohe Gewalt uns von den Fesseln befreit. Und nachdem alle Opfer gezählt und begraben sind, beginnt für die Überlebenden das trügerische Spiel von vorne. Wer sich dem „selbstlos“ entziehen möchte, landet im Niemandsland, wo alle guten Seelen ziellos umherirren.

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  6. Karlheinz

    Ein sehr schöner Beitrag, Danke.

    Ich stelle es in meinem Blog genauso dar, womit unsere Theorien schon mal nicht miteinander in Konkurrenz stehen. Das Konkurrenzdenken ist mit vielen Sprüchen im Menschen fest verschraubt:

    http://sklaven-ohne-ketten.blogspot.com/2009/03/hart-und-loyal-loyalitat-ist-ein-zu.html

    Tatsächlich wird die genetische Basis für Empathie immer deutlicher. Nur vererben sich Soziopathien unabhängig von der Intelligenz, und somit existiert da auch eine unheilvolle Mischung:

    http://sklaven-ohne-ketten.blogspot.com/2009/03/vom-neandertaler-zum-soziopathen-fruher.html

    Grüße von Blog zu Blog
    Karlheinz

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