Wir alle leben mit Vorstellungen und Bildern von unserem Idealpartner. Diese Bilder, gefärbt mit erotischen Inhalten, haben ihren Platz in der Phantasie und im Unbewussten. Genährt werden sie durch Medien und Werbung, deren Hintergrund ökonomisch bedingt ist. Ständig prasseln Informationen auf uns ein, welche unser Frau- bzw. Mannbild prägen. Diesen halbbewussten Prägungen können wir uns kaum entziehen. Schließlich lernen wir einen Partner kennen und das projizierte Traumbild manifestiert sich in einem fleischlichen Gegenüber. – Sex ist die Frucht und nicht die Wurzel.

Eros und Phantasie

 

Der kokette Blick, der verheißungsvolle Freuden verspricht, das Locken und Blocken mit Gestik und Mimik, die bestimmte Art und Weise, sich erotisch zu geben, sind teilweise antrainierte Verhaltensweisen, die ihre lustvolle Wirkung selten verfehlen. Rauschhaft werden lustvolle Wochen und Monate gelebt, oft getragen auf der Grundlage von Illusionen. Der Rausch hält die Illusion am Leben. Bald aber beginnt die Realität die Illusion wie ein Messer kompromisslos zu zerschneiden. Das, was im anderen schon von Beginn an wahrgenommen wurde, präsentiert sich nunmehr deutlich. Wir erleben im anderen die Schattenseiten, z.B. das Klammern, das Sich-Unabhängig-Geben, die Sprachlosigkeit usw. Wir erkennen nicht die wechselseitige Beeinflussung unserer eigenen beziehungsexistentiellen Themen. Wir sind von Anfang an mit den Ärgernissen und Stärken des Partners verbunden. Dieser Vorgang ist überwiegend unbewusst. Das heißt, unser Partner repräsentiert unsere eigenen geliebten oder auch gehassten Anteile. Ob wir wollen oder nicht, wir sind ein Teil von ihnen. Im Anderen können wir sie ablehnen oder lieben lernen, soweit wir uns selbst lieben können.

 

Eros und Realität

Die Chance, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, ist der Prozess, sich nunmehr menschlich, mit Schwächen und Stärken wahrzunehmen und in zweiter Instanz sich seinem Gegenüber so zu zeigen. Das heißt, wir bringen unsere Wirklichkeit in Kontakt zum Partner. Diese Wirklichkeiten bestehen aus Angst, Sehnsucht, Wut, Verletzlichkeit, Scham, Freude und Spiritualität. Das braucht Mut. Es ist eine Herausforderung. Oft folgen dieser Schnittstelle Beziehungskrisen. Bindungen lösen sich auf, bis zum nächsten Spiel der Rollenverliebtheit. Auf diesem vereinfachten Schema gedeiht und verblüht eine Vielfalt von Beziehungen. „Phantasie-Eros“ zieht sich zurück.

 

Was ist passiert?

Emotionen in uns sind widersprüchlich. Der zentrale Widerspruch ist die Sehnsucht nach Nähe und das gleichzeitige Abwehren von Nähe. Da dieser innere Ambivalenzkonflikt auf Dauer nicht auzuhalten ist, suchen wir uns unbewusst Partnerkonstellationen, die diesen Konflikt auf die jeweiligen Partner aufteilen: der eine sehnt sich nach Nähe, der andere geht auf Distanz.
Das abhängige Wesen Mensch ringt in den ersten Lebensjahren um die Ablösung von der Bezugsperson und mit der oft gleichzeitigen Annäherung. Es benötigt Sicherheit und Liebe auf beiden Ebenen, um diesen Widerspruch in der Seele zu integrieren. In sehr wenigen Fällen gelingt diese Leistung. Wir fixieren uns entweder in Abhängigkeit, wir klammern, oder wir verleugnen diese Abhängigkeit, indem wir den Partner emotional auf Distanz halten. Eine gelungene Integration zeichnet sich tendenziell durch die Fähigkeit aus, Spannungen, Unsicherheiten und die genannte Ambivalenz in sich selbst zu tolerieren. „Ich will dich zu meinem Glück, doch notfalls genüge ich mir selbst.“ Erwachsene Erotik entzündet sich an dem Spannungsverhältnis zwischen Grenzen setzen können und sich andererseits einlassen, bzw. hingeben können.

Freiheit heißt, in der Lage zu sein, Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen und zu zeigen, möglichst unabhängig davon, was ich glaube, was der Partner sich wünscht und unabhängig davon, ob die Wünsche erfüllt werden.
Das setzt Vertrauen, Selbstbewusstsein und einen guten Selbstkontakt voraus. Die meisten von uns müssen das erlernen, z.B. in einem therapeutischen Prozess, um glückliche Bindungen eingehen zu können.
Um erotische Nähe zum Partner am Leben erhalten zu können und sich gemeinsam zu entwickeln, benötigen wir eine Balance zwischen Nähe und Distanz. In dem Maße, wie wir unsere Abhängigkeit anerkennen, sind wir fähig zur Individuation/Unabhängigkeit. Es ist ein Paradoxon, dass nur der, der zur Trennung fähig ist, sich auf Nähe einlassen kann. Tiefe erotische Nähe löst bei vielen Angst aus. Hingabe ist Aufgabe des Egos. Lustvolle, unwillkürliche Pulsationen im Körper während des Orgasmus werden als Kontrollverlust erlebt. Dieser ist ein kleiner Sterbeprozess, er bringt uns in Kontakt mit Themen von Geburt und Tod. Im Spiel der Kraft zwischen Nähe und Distanz reift ein erwachsener Kontakt zwischen den Partnern, der den Wünschen des inneren Kindes gegenüber aufgeschlossen ist, sich jedoch ihm nicht unterwirft!

Die Anerkennung dieser Grundrealität ist der Humus, auf dem Erotik gedeiht. Sex ist in diesem Kontext die Blüte dieses Prozesses und nicht die Wurzel.

 

Abb: Cornelia Regler

Über den Autor

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geb. 1957. Langjährige Erfahrung in der Psychotherapie mit Einzelnen, Paaren und Gruppen.
Methoden: tiefenpsychologisch fundierte Körperpsychotherapie, Biosynthese, analytische Gruppenpsychotherapie, Gesprächstherapie, Familienaufstellungen.

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