Die Vergegenwärtigung des eigenen Todes in spirituellen Traditionen und in der zeitgenössischen Psychotherapie


Der modernen Kultur der fortschreitenden technischen Beherrschung gilt der Tod ausschließlich als ein Feind, der bekämpft und irgendwann in der Zukunft auch besiegt werden soll. In vielen traditionellen Weltbildern und Religionen ist demgegenüber die Überzeugung wirksam, dass die Annahme und Vorwegnahme des eigenen Todes für persönliche Reifung und Heilung grundlegend sind. Diese Überzeugung prägt seit C. G. Jung auch wichtige Strömungen der heutigen Psychotherapie. Vor allem körperbezogene Formen von Psychotherapie haben Methoden zur anschaulichen und emotionalen Vorwegnahme des eigenen Todes entwickelt, die neue Dimensionen der Selbsterfahrung, persönlichen Entwicklung und Heilung eröffnen.

Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist grundlegend für menschliches Leben. Die Menschen unterscheiden sich von anderen Primaten nicht prinzipiell durch die Fähigkeit zum Gebrauch oder zur Herstellung von Werkzeugen oder zum Erwerb von Sprachen, sondern durch die Praxis der Beerdigung toter Artgenossen. Die menschliche Kultur lässt sich auch als ein vielfältiger Versuch verstehen, die Angst vor den Toten und vor dem eigenen Sterben zu bewältigen. Religiöse Praktiken und Glaubenssysteme, vom Schamanismus über die Mythen bis zu den Hochreligionen, lassen sich einerseits als ebenso viele Versuche verstehen, die Todesangst zu bekämpfen und das Wissen um die Sterblichkeit abzuwehren, andererseits aber auch als Spielarten, die menschliche Sterblichkeit zu akzeptieren und durch die Vorausnahme und Vergegenwärtigung des eigenen Todes bewusster, reifer und lebendiger leben zu können.

Schon in frühen Gesellschaften gab es offenbar Personen, die wesentlich aufgrund ihrer besonderen Beziehung zum Tod wichtige Funktionen in der Gemeinschaft übernehmen konnten. So kann jemand zum Schamanen, also zum Heiler, Zauberer und Lehrer vom Jenseits und von der Weisheit der Ahnen, nur dann werden, wenn er z.B. durch eine lebensgefährliche Krankheit, durch psychotische Episoden oder durch andere, außergewöhnli-che Erfahrungen gelernt hat, den Verlust seines alltäglichen Selbstes zu akzeptieren und besondere Ressourcen zu entdecken, vor allem die Fähigkeit, in andere Realitätsbereiche zu reisen und mit Geistern zu kommunizieren. Aber nicht nur die besondere Initiation zum Schamanen, auch die allgemeinen Initiationen, die jedes Mitglied archaischer Gesellschaften durchmacht, wie die Pubertätsriten, enthalten wesentlich eine Konfrontation mit dem Tod.

Reise in die Unterwelt

Zur Biographie des Helden, wie sie in den Mythen aller Völker dargestellt wird, gehört die Reise ins Land der Toten, in die Unterwelt. In der griechischen Mythologie, die die abend- ländische Kultur wesentlich geprägt hat, wird das besonders an den Gestalten des Herakles, Theseus, Orpheus und Odysseus deutlich. Die Riten der antiken Mysterienkulte beruhen auf dem Mythos des Raubs der Demeter/ Persephone/ Kore durch den Totengott und ihrer Befreiung und konfrontieren so jeden Adepten mit den Themen von Tod und Wiedergeburt. Der ägyptische Sonnengott muss jede Nacht den Kampf mit der Meeres-schlange der nächtlichen Unterwelt bestehen, um am nächsten Morgen wieder am Himmel erscheinen zu können.

Östliche, vor allem buddhistische Meditationstechniken zielen auf eine Transzendierung des Ichs, einen Ich-Tod, der dem Prozess des physischen Sterbens analog ist. Im tibetanischen Totenbuch werden die mentalen Phasen des Sterbeprozesses und Techniken zur Erlangung von Erleuchtung im Tod detailliert beschrieben. Jesus Christus kann die Menschen nur dadurch von ihren Sünden, d.h. vom Tod ihrer Seelen, erlösen, dass er es ohne Gegenwehr akzeptiert, hingerichtet zu werden. So heißt es am populären Beginn der orthodoxen Osterliturgie: „Christus ist auferstanden von den Toten, indem er den Tod durch den Tod besiegt hat.“

Platon hatte gelehrt, die eigentliche Aufgabe der Philosophie bestehe darin, die Trennung der unsterblichen Seele im Tod von dem sterblichen Körper vorwegzunehmen und einzuüben. Diese Idee vom Philosophieren als Sterbenlernen wurde von den stoischen Philosophen auch unabhängig von der platonischen Lehre von der Unsterblichkeit der individuellen Seele weitergebildet. Daran anknüpfend entwickelte die christliche Kultur ihre „ars moriendi“, eine Kunstlehre der Sterbebegleitung, Sterbevorbereitung und der Annahme des Sterbens, die nach der Religionskritik der Aufklärung teilweise verloren ging und in unserer Zeit wiederbelebt worden ist.

Existentielle Psychotherapie

Am Beginn der modernen Psychotherapie, bei Freud, spielte die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit kaum eine Rolle, obwohl Freud dann mit seiner Theorie des „Todestriebs“ das Thema des Todes in das Zentrum seiner Theorie stellte. Jung lehrte dem gegenüber, dass die Antizipation des eigenen Todes für persönliche Reifung und seelische Heilung grundlegend sei. Dabei berief er sich nicht nur auf seine therapeutischen Erfahrungen, sondern auch auf beinahe vergessene spirituelle Traditionen, vor allem auf die der Alchemie.

Zu einem zentralen Thema der Psychotherapie wurden Tod und Sterben in den letzten Jahrzehnten im Einflussbereich der Existenzphilosophie und der humanistischen Psychologie. In der existenziellen Psychotherapie von Irvin D. Yalom ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und der Todesangst die wichtigste Aufgabe. Yaloms therapeutisches Credo lautet hier: „Obwohl die Physikalität des Todes den Menschen zerstört, rettet ihn die Idee des Todes.“
Bei Yalom und Elisabeth Kübler-Ross hat sich vor allem die Arbeit in Gruppen unter Einbeziehung von Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten als wirkungsvoll erwiesen. Auch Stanislav Grof hat seine LSD-gestützte Gesprächspsychotherapie, in der der Zusammenhang von Geburt und Tod das zentrale Thema war, an Krebspatienten entwickelt.
Therapeutisch wirkungsvoll ist auch die Auseinandersetzung mit sogenannten Nahtod-Erfahrungen bei tiefen physiologischen Krisen, Unfällen, Selbstmordversuchen usw. Die Gestalt-, Hypno- und Körperpsychotherapie nutzt in Anknüpfung an Jung „aktive Imaginationen“ oder geführte Phantasiereisen zur sinnlichen Vergegenwärtigung des eigenen Todes in Bildern und Gefühlen.
Der jüngst verstorbene Paul Rebillot hat Programme für mehrtägige Selbsterfahrungs-Workshops entwickelt, in denen Grundthemen der Mythologie wie die Heldenreise oder Tod und Wiedergeburt mit künstlerisch-kreativen und psychotherapeutischen Mitteln wie Tanz, Musik, Malen, Phantasiereisen, Körperarbeit, Rollenspielen, Ritualen und psychodramatischen Inszenierungen gestaltet und emotional und verbal bearbeitet werden. Aus eigener Erfahrung mit solchen Work-shops kann ich sagen, dass eine sorgfältig vorbereitete Konfrontation mit dem eigenen Tod – in einer angeleiteten Imagination im Rahmen eines Rituals in einer therapeutischen Gruppe – es möglich macht, tiefste Ängste vor dem Untergang in Dunkelheit, Wasser und Einsamkeit zu akzeptieren und die in der Phantasie erlebte Zerstörung des eigenen Körpers solange mit Gelassenheit zu betrachten, bis sich ein neuer, völlig unerwarteter Weg ins Leben eröffnet. Eine solche Erfahrung kann therapeutisch sehr wirkungsvoll sein, etwa zur Reduzierung von Ängsten oder zur Befreiung von inneren Zwängen und Abhängigkeiten, die bis dahin unauflösbar erschienen.
Unter dem Titel „Stirb und werde“, der dem Gedicht „Selige Sehnsucht“ aus dem „West-östlichen Diwan“ von Goethe entnommen ist, biete ich gemeinsam mit Elizabeth Marshall Gruppen zum Thema Lebensbilanz, Abschied, Vergegenwärtigung des eigenen Todes und Neubeginn an. In diesen Gruppen ist immer ausreichend Raum dafür, die Erfahrung, die Gedanken, Phantasien und Gefühle der Teilnehmer mit Hilfe der beiden Therapeuten zu bearbeiten.

„Lerne sterben, so wirst du leben, denn niemand wird leben lernen, der nicht gelernt hat zu sterben.“
(Das Buch von der Kunst zu sterben)

Literatur:

St. Grof/ J. Halifax (1993), Die Begegnung mit dem Tod
I.D. Yalom (2000), Existenzielle Psychotherapie
St. Keleman (1999), Lebe dein Sterben
E. Kübler-Ross (2001), Befreiung aus der Angst. Berichte aus den Workshops „Leben, Tod und Übergang“
P. Rebillot (1997), Die Heldenreise. Das Abenteuer der kreativen Selbstentdeckung
K. Ring/ E. Elsaesser-Valerino (1998), Im Angesicht des Lichts. Was wir aus Nah-Tod-Erfahrungen für das Leben gewinnen
S. Rinpoche (1999), Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben
Todesnähe. Interdisziplinäre Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen (1999), hg. v. H. Knoblauch/ H.-G. Söffner

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